In diesem Artikel erfährst du, wie das Hexentum und die (Natur-)Spiritualität die „Löffelschublade“ auffüllen können, was es mit diesen Löffeln eigentlich auf sich hat und welche „Low Spoon“-Aktivitäten und barrierearmen Ideen sich im Hexentum finden. Du erfährst aber auch von den Schattenseiten der Hexen- und Spirituellen-Szene und wie toxisch diese sein können. Abschließend habe ich dir noch einige weiterführende Links gesammelt und ich erkläre, was der Spoonie Witch Coven ist.
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Blog-Artikel eher allgemein halte oder ob ich meine eigenen Erfahrungen mit einbaue. Die Themen Krankheit, Behinderung und Psyche sind so komplex. Jede*r von uns erlebt sie anders. Und gleichzeitig haben wir sicherlich vieles gemeinsam. Wir sind vielleicht von Vorurteilen, Diskriminierung und Ableismus betroffen. Manche von uns sind mehrfach marginalisiert. Ich habe mich daher entschieden meine eigene Geschichte als einzelnes Beispiel zu verwenden und möchte hiermit vorab sagen, dass dieser Artikel niemals vollständig abbilden kann, was behinderte, chronisch kranke Menschen erleben, fühlen und denken. Ich lade dich herzlich dazu ein, deine eigenen Erfahrungen zum Thema Behinderung und Spiritualität unter dem Hashtag #SpoonieWitchCoven zu teilen.
Disclaimer In diesem Artikel verwende ich das Wort Hexe. Hexe wird im modernen Hexentum als gender-neutraler Begriff genutzt. Hexe kann jede Person sein, die sich als solche versteht.
Ich teile hier meine individuelle Ansicht als behinderte nicht-religiöse Person, die den psychologischen Weg im Hexentum geht. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, meine Ansicht sei die einzig richtige.
Nichts von den im Artikel erwähnten Praktiken ersetzt professionelle Hilfe, wie psychotherapeutische und ärztliche Behandlung.
Aber jetzt plaudere ich einfach mal drauf los!
Hexerei als Werkzeug der Unterdrückten
Das Hexenwerk wird oft als Praktik der Unterdrückten verstanden. Das hat historische Hintergründe, wie die systematische Verfolgung und Tötung von mehrheitlich Frauen während der Hoch-Zeit des Hexenwahns. Aber auch die Abwertung und Auslöschung verschiedener spiritueller Praktiken und Glaubensformen indigener Gruppen, weil diese für primitiv gehalten wurden, tragen zur Annahme bei, dass Hexerei ein Werkzeug der Unterdrückten ist.
Die Hexenverfolgung hat sich in manchen Teilen der Welt leider bis heute gehalten. Beispielsweise werden in einigen Ländern Afrikas, in Saudi-Arabien und in Papua-Neuguinea noch heute Menschen, aus den unterschiedlichsten Gründen, der angeblichen Hexerei bezichtigt und benachteiligt, bestraft oder ermordet.
In den USA katapultiert das Abtreibungsverbot ganze Generationen zurück ins Mittelalter. Frauen befinden sich plötzlich in Situationen, wie schon damals die Frauen, die heimlich zu Hebammen und Kräuterkundigen gingen, um sich im Verborgenen helfen zu lassen.
Das Hexentum kann niemals unpolitisch sein. Die Hexe ist politisch.
Als Mensch mit Behinderung kann die Identifikation mit den „Wicked and Weird“ – mit Hexen – eine kraftvolle Art der Selbstermächtigung und Unterstützung darstellen. Die Praktiken, so unterschiedlich sie im Hexentum auch sein mögen, können uns lehren, dass die Quelle unserer Kraft in uns selbst steckt. Das Hexentum öffnet uns die Türen zu Ressourcen und Wissen, die wir anwenden können, um uns und unsere Umwelt zu verändern. Wir vertreten Werte, auch wenn wir als behinderte Hexen innerhalb der Gesellschaft selbst wenig Wert erfahren.
So toxisch ist die spirituelle Szene
Das Hexentum kann also für behinderte Menschen ein sicheres Zuhause – ein safer space – sein. Und trotzdem ist die Szene genauso zersetzt von ableistischem, gefährlichem und diskriminierendem Gedankengut, wie der Rest der Gesellschaft.
Meine Top 9 Red Flags in der spirituellen Szene
…und ein paar snarky Kommentare, die ich mir nicht verkneifen kann.
Falsche Heilversprechen (Nein, Dämonenmeister Jürgen, mein Autismus kann nicht geheilt werden. *block*)
Gatekeeping (Solange es sich nicht um eine Closed Practice handelt, ist das Hexentum für Alle da. Es gibt keine allgemeingültigen Regeln, außer die, die du dir selbst auferlegst.)
weniger Impfbereitschaft und Infektionsschutz (Und dafür viel mehr Verschwörungsmythen ahhhh!)
Divine Femininity (Die Fähigkeit Kinder zu gebären und zu menstruieren wird mit weiblicher Urkraft gleichgesetzt. Es werden restriktive Geschlechterrollen reproduziert. Und ich halt’s wirklich nicht mehr aus, ständig hören zu müssen, dass Menschen mit Endometriose oder PCOS nur zu ihrer weiblichen Urkraft zurückfinden müssen, damit sie geheilt sind.)
Das Ausnutzen der Hilflosigkeit Anderer (Durch spirituelle Dienstleistungen können gefährliche Abhängigkeiten entstehen. Hallo Astro-TV!)
Braune Esoterik (Hex the facists!)
Schuld-Sein an der eigenen Krankheit oder Behinderung (Nein, ich werde mir nicht The Secret anschauen und meine Behinderung ist auch keine Strafe aus einem früheren Leben.)
Kulturelle Aneignung (Kultureller Austausch ist wundervoll! Aber die Inanspruchnahme von Dingen, Praktiken oder Traditionen aus einem kulturellen Kontext, der nicht der eigene ist und die kommerzielle Ausbeutung dieser, ist es nicht. Bekannte Beispiele aus dem spirituellen Bereich sind die Verwendung von weißem Salbei und Palo Santo und Yoga. Dazu fand ich einen lesenswerten Artikel auf dem Blog der freien Universität Berlin: Das moderne Yoga: Ein Ergebnis patriarchaler und kolonialisierter Strukturen)
Toxische Positivität, Good Vibes Only, Happy Mind Happy Life (Nein. Alle Gefühle sind willkommen.)
Wenn ich über eine oder mehrere dieser Red Flags stolpere, zeigt mir das deutlich, dass behinderte und chronisch kranke Menschen, sowie andere marginalisierte Personengruppen, dort nicht sicher sind.
Manchmal haben Menschen einfach noch nicht genauer darüber nachgedacht, wie etwa beim Thema der kulturellen Aneignung, und es lohnt sich vielleicht in ein konstruktives Gespräch zu gehen. Aber weil wir Spoonies sind, sollten wir genau überlegen wo es die Löffel wert ist zu diskutieren und wo wir lieber unsere Aufmerksamkeit auf Besseres lenken sollten. Passt gut auf euch auf! <3
Die Löffel-Theorie
Die Spoon Theory ist einer Metapher, um die Lebensrealität von vielen Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder Neurodivergenz zu veranschaulichen. Ein Spoonie zu sein bedeutet, ständig mit der eigenen Energie zu haushalten und vorausschauend planen zu müssen. Diese Energie wird als Löffel dargestellt. Verschiedene Aktivitäten kosten eine unterschiedliche Anzahl Löffel. An manchen Tagen wacht man vielleicht mit 3 Löffeln auf und muss sparsam mit deren Einsatz sein, damit sie nicht schon vor dem Frühstück aufgebraucht sind. An guten Tagen hat man vielleicht gleich 15 zur Verfügung und kann überlegen, ob genügend Löffel für einen kleinen Ausflug drin wären. Wenn du mehr darüber lesen möchtest, findest du zum Beispiel beim Sozialverband VdK einen Artikel dazu: Was ist die „Spoon-Theory?“
Wie mir das Hexentum hilft
Ich bin in den 90er Jahren das erste Mal mit dem Hexentum in Berührung gekommen. Erst war ich fasziniert von all den Hexen aus den damaligen TV-Serien, dann las ich schnell meine ersten Bücher über Magie, Wicca, Kräuterkunde und Natur-Spiritualität. Ich war damals 12, autistisch und dadurch psychisch erkrankt. Später kamen noch Endometriose und sehr viel später POTS dazu.
Ich saß auf meinem Kinderzimmer-Teppich, zog einen Schutzkreis, zündete vor mir eine Kerze an, begrüßte die vier Himmelsrichtungen und Elemente, sowie Göttin und Gott – damals waren die meisten deutschsprachigen Ressourcen sehr Wicca-zentriert – und hielt mein allererstes Ritual ab. So praktiziere ich heute gar nicht mehr. Ich bin nicht religiös und würde mich viel mehr als Pantheistin/Atheistin bezeichnen. Aber dieses allererste Ritual hat mir einen ganz neuen Weg aufgezeigt.
Wie mir das Hexentum bei meiner mentalen Gesundheit und mit meinen Behinderungen im Alltag hilft, möchte ich anhand von Beispielen erläutern.
Rituale und Zauber
Das Begehen von Ritualen oder das Wirken von Zaubern hat auf mich einen großen psychologischen Effekt. Ich nutze diese Praktiken um mich selbst zu beeinflussen.
Etwa ein Korken-Fläschchen, welches ich innerhalb eines Rituals mit verschiedenen Dingen, die mich an das erinnern sollen, was ich bewirken möchte, befülle und es mit großem Drumherum verschließe und bespreche. Das Fläschchen ist hinterher eine Art Brücken-Manifestation und erinnert mich im Alltag immer wieder unbewusst an das, was ich erreichen möchte.
Ein weiteres Beispiel aus meiner Praxis ist ein Bad mit verschiedenen Kräuter-Auszügen. Baden, Duschen oder sich mit einem Waschlappen waschen ist erstmal etwas Alltägliches, kann aber zu einer kraftschenkenden Erfahrung werden, wenn wir uns dabei vorstellen, wie alles Negative von uns abgewaschen wird und für immer im Abfluss verschwindet. Ganz verkürzt dargestellt, aber diese Art von Reinigungsritualen, im wahrsten Sinne des Wortes, können unsere Psyche enorm beeinflussen. Sie sind ein Beispiel dafür, wie selbst ohne großen Aufwand etwas Hexerei im Alltag entstehen kann.
Räuchern und Aromatherapie
Das rituelle Räuchern ist etwas, das ich ganz regelmäßig mache. Als Autistin sind Rituale sowieso alltäglich. Und wir Menschen können unser Unterbewusstsein leicht über Gerüche konditionieren. Außerdem trägt ein angenehmer Duft ganz nebenbei zum allgemeinen Wohlbefinden bei.
Entspannungsübungen
Als Jugendliche lernte ich durch das Hexentum das Konzept der Meditation. Ich war damals depressiv und kämpfte immer wieder gegen meine Angsterkrankungen. Dank Meditation, autogenem Training, progressiver Muskelentspannung, Atemübungen, Waldbaden, Fantasiereisen und verschiedener Achtsamkeitsübungen hatte ich jede Menge Werkzeuge an der Hand.
Heute ist besonders die progressive Muskelentspannung meine Begleitung, um meinen chronischen Schmerzen entgegen zu wirken. Und ich habe gelernt, dass Meditation ganz unterschiedlich aussehen kann. Ich erlebe einen meditativen Zustand zum Beispiel beim Puzzlen, wenn ich Wildkräuter in Aquarell male oder mich schminke. Es muss also nicht unbedingt der Lotus-Sitz sein. (Den kann ich durch meine Behinderung sowieso nicht einnehmen, ha!.)
Jahreskreisfeste
Zwar sind die acht Jahreskreisfeste in der heutigen Form durch Wicca entstanden, aber ich habe sie für mich – wie viele moderne Hexen – übernommen. Ich lebe mitten in der Stadt und kann durch meine Behinderung nicht so oft raus in die Natur gehen, wie ich es am Liebsten würde. Durch das Feiern der Jahreskreisfeste, kann ich mir den Wandel der Jahreszeiten zu mir nach Hause holen und sie miterleben. Das erdet mich und schafft Verbindung und Struktur. Ohne dieses Bewusstsein, würde ich mich sehr losgelöst von den Abläufen der Natur fühlen.
Schattenarbeit
Anders als manch andere Formen der Spiritualität gibt es im Hexentum nicht nur eine leuchtende „Alles ist toll, wir haben uns alle lieb, das Leben ist großartig“-Seite. Im Hexentum wird im Dreck gewühlt. Und dieses Auseinandersetzen mit den eigenen Schatten, habe ich immer als sehr essentiell wahrgenommen.
Tarot
Tarot-Karten und andere Orakel können großartige Reflexions-Tools sein. Die vielschichtigen Bilder der Karten können unser Unterbewusstes ansprechen und Gedanken oder Gefühle aus uns rauskitzeln, die uns vorher vielleicht noch nicht so deutlich waren. Schwierige Themen können neu wahrgenommen oder differenzierter betrachtet werden. Bilder sind einfach eine großartige Möglichkeit durch freies Assoziieren die Dinge in unserem Hirn anders zu erleben und zu sortieren.
Phytotherapie
Wenn du nicht das erste Mal auf den Hollenkraut-Seiten liest, ist dir vermutlich schon ganz klar, dass die Pflanzenheilkunde für mich der größte und wichtigste Teil meiner Praktik ist. Die Phytotherapie ist – neben Frau Holle – mein Spezialinteresse und somit für mich als Autistin quasi lebensnotwendig. Als ich meine Ausbildung in evidenzbasierter Phytotherapie machte, hat mich das nachhaltig verändert. Ich spüre einfach eine riesige Erfüllung in mir, wenn ich mich mit der Heilkräuterwelt beschäftige, egal ob in der Theorie oder in der Praxis.
Es ist nicht nur eine autistische Obsession. Die Phytotherapie bedeutet für mich auch Selbstermächtigung. Falls du selbst chronisch krank bist und alles was bleibt die reine Symptombehandlung ist, dann kannst du bestimmt verstehen, was es bedeutet, einen Teil der Symptome selbst managen zu können. Ich darf meinen engen Kreis an Menschen und mich selbst beim Gesunden und beim Verbessern der Lebensqualität helfen. Das macht mich glücklich!
Das sind alles Praktiken, die ich ohne das Hexentum gar nicht oder vielleicht erst sehr viel später kennengelernt hätte. Sie helfen mir meine „Löffelschublade“ aufzufüllen und meine Resilienz zu steigern. Gleichzeitig hat mir das Hexentum aber auch beigebracht sanft mit mir selbst zu sein und zu erkennen, dass das alles nicht mit Druck oder Zwang funktioniert. Wenn die Löffel nicht mehr für eine Übung oder ein Ritual ausreichen, wenn die Jahreskreisfeste einfach so an einem vorbei ziehen oder wenn innerhalb einer Meditation die Gedanken immer wieder abschweifen, dann ist das nicht schlimm.
Hexenwerk kann zu einem großen Teil Selbstfürsorge sein. Ich glaube, das wurde bis hierhin sehr deutlich. Aber ich muss unbedingt erwähnen, dass das nur ein Teil ist. Das Hexentum ist für viele Hexen eine Philosophie, Naturverehrung, Aktivismus, das Streben danach die Welt besser zu hinterlassen und Erfüllung in der Hilfe für Andere zu finden.
Alles was ich aufgezählt habe, muss nicht für dich passen. Vielleicht hast du eine ganz andere Auffassung vom Hexentum. Und sicher fallen dir noch viel mehr Dinge ein, die du in so einer Liste nennen würdest. Das ist vollkommen in Ordnung so. Wie im Einleitungsteil bereits erwähnt: Wenn du möchtest, teile deine Gedanken zu all dem gerne unter #SpoonieWitchCoven
rest is radical
Darum funktionieren viele Praktiken nicht für behinderte Hexen
Long story short: Weil die allermeisten Ressourcen nicht für behinderte Hexen gedacht sind.
Ich denke die meisten von uns, die sich mit dem Hexenhandwerk beschäftigen, gelangen zuerst über Bücher oder das Internet an Information. Wie überall in unserer Gesellschaft, werden selten die Lebensrealitäten von benachteiligten Gruppen – wie Menschen mit Behinderung – berücksichtigt.
Gepaart mit der Annahme, dass es nur einen richtigen Weg gibt XY zu tun, entsteht schnell der Eindruck, dass das Hexentum für Spoonies und Behinderte gar nicht geeignet sei. (Das Visualisieren wird beispielsweise immer wieder als essentieller Skill beschrieben. Aber wie soll das eine Person mit Aphantasie umsetzen?)
Barrieren sind überall und behindern Hexen auf unterschiedliche Weise. Für die unter uns, die gerne die Gemeinschaft suchen, fehlen meistens geeignete Gruppen und/oder Räumlichkeiten. Der Klassiker sind spirituelle Zusammenkünfte, die sich regelmäßig am Waldrand treffen und dort Jahreskreisfeste feiern, Rituale abhalten, vielleicht zusammen tanzen, essen, was basteln und eben all den tollen witchy stuff machen, den ich mir so vorstellen kann. Für dich spielen vielleicht andere Barrieren eine Rolle, aber ich möchte kurz meine Gedankenspirale aufschreiben, wenn ich auch nur annähernd darüber nachdenke zu so einem Treffen zu gehen:
„Das ist am Waldrand, das heißt ich brauche Jemanden der mich fährt und abholt. Ich kenne die Leute alle noch nicht, ich würde eigentlich gerne eine vertraute Person mitnehmen. Ach du scheiße, da gibt es bestimmt gar keine Toiletten! Und wo setze ich mich hin? Ich kann mich nicht auf den Boden setzen. Es wäre aber voll seltsam, wenn ich als einzige nicht auf dem Boden sitze. Und die ganze Zeit stehen kann ich auch nicht. Was ist wenn es sehr heiß ist oder es regnet?
Treffe ich auf Ablehnung oder Unverständnis, wenn ich meine Maske trage? Hoffentlich ist der Weg von einer Parkmöglichkeit bis zum Treffpunkt nicht so weit. Wenn ich Glück habe, könnte das Gelände mit meinem Rollator zu bewältigen sein. Was mache ich, wenn ich mich unwohl fühle oder mich Leute nicht mögen… mich vielleicht sogar wegen meiner Schwierigkeiten nicht ernst nehmen?! Ich will aber auch keine Umstände machen.
Uff, hoffentlich habe ich an dem Tag keine großen Schmerzen und hoffentlich falle ich nicht vor Allen in Ohnmacht. Was mache ich, wenn die Musik zu laut ist oder alle durcheinander reden und ich dann nichts mehr verstehen kann. Und ob es die Leute wohl komisch finden, wenn ich die ganze Zeit meine Sonnenbrille trage? Kann ich es mir leisten zwei, drei Tage nach dem Treffen im Bett zu liegen um meine Löffel wieder aufzufüllen? Vielleicht sollte ich einfach absagen, aber was ist, wenn die Leute dann sauer auf mich sind?! Nevermind. Ich gehe besser niemals mehr vor die Tür. Forever Stay Home Club.“
Seit über einem Jahr möchte ich zum Beispiel schon zu einem heidnischen Stammtisch um die Ecke gehen. Ich glaube die Leute dort sind alle sehr nett und aufgeschlossen. Aber dann kommt die Gedankenspirale und die Angst vor der Angst und so bleibe ich doch zuhause. (Meh.)
Anregungen für barrierearmes Hexenwerk und „Low Spoon“-Aktivitäten
Manchmal müssen wir das was uns seit Jahrzehnten als Hexenwerk und magische Praxis präsentiert wird, über Bord werfen.
Ich habe ein paar Ideen gesammelt, die ich gerne teilen möchte. Vielleicht inspirieren sie dich dazu, etwas davon umzusetzen oder für dich so umzugestalten, dass es für dich passt.
Hilfsmittel integrieren
Viele behinderte und chronisch kranke Menschen nutzen unterschiedliche Hilfsmittel, um sich freier bewegen und besser durch den Alltag zu kommen. Etwas was ich selbst erst seit Kurzem für mich entdeckt habe, ist das Einbinden dieser Hilfsmittel in meine Praxis. Kleine alltägliche Rituale, wie das Anziehen meiner Kompressionsstrümpfe, werden plötzlich zu gemütsstärkenden Angelegenheiten. Und das ist echt schön und macht den Anzieh-Prozess gleichzeitig ein bisschen weniger ätzend.
Überleg mal, wie und ob du deine Geh-Hilfe, deine Hör- oder Seh-Hilfen und andere Hilfsmittel in deine Praxis mit einbeziehen könntest. Meinen Rollator möchte ich zum Beispiel noch mit einem der Spoonie Witch Coven Charms schmücken und ihn als kleinen Glücksbringer verwenden.
Gemeinschaft
Wenn es für dich nicht möglich ist, dich mit anderen Hexen zu treffen, du aber den Austausch suchst, dann ist der Blick in Online Communities bestimmt einen Versuch wert. Es ist auch dort nicht leicht eine passende Gruppe zu finden. Ich möchte dir deshalb einen Discord Server empfehlen, der aktiv, gut moderiert und absolut offen für andere Lebensrealitäten ist. Für viele der Mitglieder, ist dieser Ort zu einem Online Safer Space geworden. Schau dich gerne einmal um, wenn du möchtest: Hexentreff Server auf Discord
Buch der Schatten (BoS)
Ein Book of Shadows oder ein Grimoire führen klassischerweise ganz viele Hexen. Die Gestaltung kann vielfältig sein. Über aufwändig gestaltete und mit gezeichneten Bildern verzierte Seiten, bis hin zu hingekritzelten Stichpunkten ist alles möglich und alles richtig. Auch was du rein schreibst, ist ganz dir überlassen. Manche füllen ihre Bücher wie Lexika. Andere schreiben eher ihre Gedanken auf oder dokumentieren ihre Rituale und Rezepte. Falls du ein BoS mit deinen Erfahrungen und Entdeckungen füllen möchtest, aber das Schreiben auf Papier eine zu große Hürde darstellt, ist eine Möglichkeit dein BoS in einem Text-Dokument am Smartphone oder am PC zu führen. Das ist sogar sehr praktisch, weil du es jederzeit editieren und die Suchfunktion nutzen kannst.
Jahreskreisfeste feiern
So gerne ich genügend Löffel hätte um jedes Jahreskreisfest groß zu feiern, zu backen, zu kochen und am Besten noch in der Natur zu sein, so wenig entspricht das meiner Realität. Meine Symptome richten sich schließlich nicht nach dem Kalender. Das kennst du bestimmt auch.
Während der Pandemie verbrachte ich viel Zeit im Spiel Animal Crossing auf der Nintendo Switch. Die Insel die man dort als Spieler*in dekoriert und bewohnt war ein richtiger Wohlfühl-Ort für mich. Ich richtete mir einen kleinen Hexenladen ein, gestaltete ein paar Grusel-Schauplätze, ein Haus in dem Frau Holle spinnt und Betten ausschüttelt und niedliche Cafès für die ebenso niedlichen tierischen Nachbarn. Dann kam ein Jahreskreisfest. Und alles was ich konnte, war auf dem Sofa liegen. Also begann ich mir einen Ritual-Platz in Animal Crossing zu gestalten und feierte dort bei Mondschein ein schönes, gemütliches Fest. Mit Musik und Tanz und allem was dazu gehört. Nur eben digital.
Und wenn die Feste halt mal komplett ausfallen, was soll’s.
Kleine Gesten, Alltags-Magie
Social Media überschüttet uns alle mit super schönen, ästhetischen Fotos und Videos von stilvoll abgestimmten Altar-Plätzen, Ritualen und Zaubern. Ich schaue mir die auch mal gerne an und mag diese „witchy aesthetic“ oft sehr. Ich denke, dass das gerade für Menschen, die das Hexentum erst neu für sich entdecken, ordentlich Druck auslösen kann. Die Erwartungen an einen selbst sind vielleicht viel zu hoch. Und das bremst aus. Wir machen das für uns. Wir sind nicht an irgendwelche Regeln gebunden, außer an die, die wir uns selbst auferlegen. Wir müssen nichts davon mit Anderen teilen.
Hexerei darf hässlich, schmutzig und weird sein.
Und Hexerei darf klein und alltäglich sein. Für uns Spoonie Witches kosten Aktivitäten unterschiedlich viele Spoons. Nur weil eine Aktivität für eine Person als nicht anstrengend empfunden wird, kann es für eine andere ein viel zu großer Kraftaufwand sein. Deshalb gilt auch hier: Picke dir gerne einfach das raus, was dich anspricht. Es sind viele Alltäglichkeiten, aber du kannst jede einzelne davon mit ein bisschen Hexerei füllen, wenn du möchtest.
„Low Spoon“-Aktivitäten:
einen Kräutertee kochen und trinken
kleine Dinge aus der Natur sammeln, wie Herbstlaub oder Kastanien
Spazieren gehen
auf eine Wiese legen und die Augen schließen
Achtsamkeitsübungen und Entspannungsübungen
Tarot- und Orakelkarten sortieren
ein Bild für dein BoS malen
Hexenbücher lesen oder hören
Blumen pressen
ein Herbarium gestalten
gut duftende Kräuter-Auszüge ins Putzwasser geben
ein Videospiel mit Hexen spielen
den botanischen Garten besuchen
einen Zopf flechten
draußen Fotos von der derzeitigen Vegetation schießen
Steine und Mineralien sammeln
unter einem Baum sitzen
Vögel beobachten
im See baden
einen Drachen steigen lassen
Wohnung jahreszeitlich dekorieren
Küchenmagie; zum Beispiel beim Suppe umrühren oder Brot backen
einen Blumenkranz für die Tür oder den Kopf binden
vor dem Schlafen gehen ein Kissenspray benutzen
eine Bibliothek besuchen und stöbern
singen oder Musik hören
einen Blumentopf bemalen
alle Fenster und Türen öffnen und den Wind und die frische Luft reinlassen
eine Musik-Playlist zusammenstellen
eine Höhle aus Decken bauen und sich darin einmummeln
Tagträumen
falls du an Gottheiten glaubst, könntest du Gebete sprechen
einen Blumenstrauß binden
ein Picknick machen
den Nachthimmel betrachten
Kräuter ernten
im Regen spazieren gehen
Marmelade kochen
Räuchern oder Duftöle verwenden
eine Kerze anzünden
auf öffentlichen Streuobstwiesen Äpfel pflücken
dich zur Musik oder im Rhythmus bewegen
einen Film über Hexen, Halloween oder Magie schauen
ein bisschen Glamour-Magick; zum Beispiel hübsche Kleidung oder Schmuck anziehen
ein Bad mit einem Kräuter-Auszug nehmen
Vielen Dank für’s Lesen und bis ganz bald, Erbse <3
Willkommen im Spoonie Witch Coven
Ich möchte mit der Initiation des Spoonie Witch Coven mehr Sichtbarkeit für behinderte und chronisch kranke Hexen schaffen. Der Spoonie Witch Coven soll unsere Gemeinschaft stärken und Online wie Offline eine Umgebung kreieren, in denen sich Spoonies sicherer fühlen können. Um diese Verbundenheit nach außen zu tragen, habe ich für den Hollenkraut Shop eine Kollektion mit vielen verschiedenen Charms und Stickern veröffentlicht. Ich lade dich herzlich dazu ein in der Kollektion zu stöbern und dich unter dem Hashtag #SpoonieWitchCoven mit Anderen zu vernetzen, wenn du das möchtest.
Buch „Das Federwolken-Prinzip – Mein entspannter Umgang mit MS und anderen Kapriolen des Lebens“ von Patricia Stutz über verschiedene Entspannungsverfahren ganz ohne esoterischen Ansatz, ISBN: 9783347233720
Entspannungs- und Yoga-Kurse begleitend zur Krebs-Therapie bei Christine Raab(zuletzt besucht am 11.09.2024)
YouTube Video „I’m a psychologist and a witch: How do I reconcile both? – A vulnerable deep dive“ von Polish Folk Witch
YouTube Video „A Response To Nike // Daily Practice & Disability in Witchcraft“ von The Gallic Witch
YouTube Video „Magie mit Behinderung“ von Magischer Pfad
♡Gefällt dir Hollenkraut?♡ Ich würde mich freuen, wenn du meine Arbeit unterstützen möchtest. Zum Beispiel über eine Spende bei Paypaloder einem symbolischen Kaffee bei Ko-Fi. Vielleicht gefällt dir aber auch etwas aus meinem Online Shop. Vielen Dank von Herzen!
In diesem Artikel erfährst du, wie das Hexentum und die (Natur-)Spiritualität die „Löffelschublade“ auffüllen können, was es mit diesen Löffeln eigentlich auf sich hat und welche „Low Spoon“-Aktivitäten und barrierearmen Ideen sich im Hexentum finden. Du erfährst aber auch von den Schattenseiten der Hexen- und Spirituellen-Szene und wie toxisch diese sein können. Abschließend habe ich dir noch einige weiterführende Links gesammelt und ich erkläre, was der Spoonie Witch Coven ist.
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Blog-Artikel eher allgemein halte oder ob ich meine eigenen Erfahrungen mit einbaue. Die Themen Krankheit, Behinderung und Psyche sind so komplex. Jede*r von uns erlebt sie anders. Und gleichzeitig haben wir sicherlich vieles gemeinsam. Wir sind vielleicht von Vorurteilen, Diskriminierung und Ableismus betroffen. Manche von uns sind mehrfach marginalisiert.
Ich habe mich daher entschieden meine eigene Geschichte als einzelnes Beispiel zu verwenden und möchte hiermit vorab sagen, dass dieser Artikel niemals vollständig abbilden kann, was behinderte, chronisch kranke Menschen erleben, fühlen und denken.
Ich lade dich herzlich dazu ein, deine eigenen Erfahrungen zum Thema Behinderung und Spiritualität unter dem Hashtag #SpoonieWitchCoven zu teilen.
Disclaimer
In diesem Artikel verwende ich das Wort Hexe. Hexe wird im modernen Hexentum als gender-neutraler Begriff genutzt. Hexe kann jede Person sein, die sich als solche versteht.
Ich teile hier meine individuelle Ansicht als behinderte nicht-religiöse Person, die den psychologischen Weg im Hexentum geht. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, meine Ansicht sei die einzig richtige.
Nichts von den im Artikel erwähnten Praktiken ersetzt professionelle Hilfe, wie psychotherapeutische und ärztliche Behandlung.
Aber jetzt plaudere ich einfach mal drauf los!
Hexerei als Werkzeug der Unterdrückten
Das Hexenwerk wird oft als Praktik der Unterdrückten verstanden. Das hat historische Hintergründe, wie die systematische Verfolgung und Tötung von mehrheitlich Frauen während der Hoch-Zeit des Hexenwahns. Aber auch die Abwertung und Auslöschung verschiedener spiritueller Praktiken und Glaubensformen indigener Gruppen, weil diese für primitiv gehalten wurden, tragen zur Annahme bei, dass Hexerei ein Werkzeug der Unterdrückten ist.
Die Hexenverfolgung hat sich in manchen Teilen der Welt leider bis heute gehalten. Beispielsweise werden in einigen Ländern Afrikas, in Saudi-Arabien und in Papua-Neuguinea noch heute Menschen, aus den unterschiedlichsten Gründen, der angeblichen Hexerei bezichtigt und benachteiligt, bestraft oder ermordet.
In den USA katapultiert das Abtreibungsverbot ganze Generationen zurück ins Mittelalter. Frauen befinden sich plötzlich in Situationen, wie schon damals die Frauen, die heimlich zu Hebammen und Kräuterkundigen gingen, um sich im Verborgenen helfen zu lassen.
Das Hexentum kann niemals unpolitisch sein. Die Hexe ist politisch.
Als Mensch mit Behinderung kann die Identifikation mit den „Wicked and Weird“ – mit Hexen – eine kraftvolle Art der Selbstermächtigung und Unterstützung darstellen. Die Praktiken, so unterschiedlich sie im Hexentum auch sein mögen, können uns lehren, dass die Quelle unserer Kraft in uns selbst steckt. Das Hexentum öffnet uns die Türen zu Ressourcen und Wissen, die wir anwenden können, um uns und unsere Umwelt zu verändern. Wir vertreten Werte, auch wenn wir als behinderte Hexen innerhalb der Gesellschaft selbst wenig Wert erfahren.
So toxisch ist die spirituelle Szene
Das Hexentum kann also für behinderte Menschen ein sicheres Zuhause – ein safer space – sein. Und trotzdem ist die Szene genauso zersetzt von ableistischem, gefährlichem und diskriminierendem Gedankengut, wie der Rest der Gesellschaft.
Meine Top 9 Red Flags in der spirituellen Szene
…und ein paar snarky Kommentare, die ich mir nicht verkneifen kann.
(Nein, Dämonenmeister Jürgen, mein Autismus kann nicht geheilt werden. *block*)
(Solange es sich nicht um eine Closed Practice handelt, ist das Hexentum für Alle da. Es gibt keine allgemeingültigen Regeln, außer die, die du dir selbst auferlegst.)
(Und dafür viel mehr Verschwörungsmythen ahhhh!)
(Die Fähigkeit Kinder zu gebären und zu menstruieren wird mit weiblicher Urkraft gleichgesetzt. Es werden restriktive Geschlechterrollen reproduziert. Und ich halt’s wirklich nicht mehr aus, ständig hören zu müssen, dass Menschen mit Endometriose oder PCOS nur zu ihrer weiblichen Urkraft zurückfinden müssen, damit sie geheilt sind.)
(Durch spirituelle Dienstleistungen können gefährliche Abhängigkeiten entstehen. Hallo Astro-TV!)
(Nein, ich werde mir nicht The Secret anschauen und meine Behinderung ist auch keine Strafe aus einem früheren Leben.)
(Kultureller Austausch ist wundervoll! Aber die Inanspruchnahme von Dingen, Praktiken oder Traditionen aus einem kulturellen Kontext, der nicht der eigene ist und die kommerzielle Ausbeutung dieser, ist es nicht. Bekannte Beispiele aus dem spirituellen Bereich sind die Verwendung von weißem Salbei und Palo Santo und Yoga. Dazu fand ich einen lesenswerten Artikel auf dem Blog der freien Universität Berlin: Das moderne Yoga: Ein Ergebnis patriarchaler und kolonialisierter Strukturen)
(Nein. Alle Gefühle sind willkommen.)
Wenn ich über eine oder mehrere dieser Red Flags stolpere, zeigt mir das deutlich, dass behinderte und chronisch kranke Menschen, sowie andere marginalisierte Personengruppen, dort nicht sicher sind.
Manchmal haben Menschen einfach noch nicht genauer darüber nachgedacht, wie etwa beim Thema der kulturellen Aneignung, und es lohnt sich vielleicht in ein konstruktives Gespräch zu gehen. Aber weil wir Spoonies sind, sollten wir genau überlegen wo es die Löffel wert ist zu diskutieren und wo wir lieber unsere Aufmerksamkeit auf Besseres lenken sollten. Passt gut auf euch auf! <3
Die Löffel-Theorie
Die Spoon Theory ist einer Metapher, um die Lebensrealität von vielen Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder Neurodivergenz zu veranschaulichen. Ein Spoonie zu sein bedeutet, ständig mit der eigenen Energie zu haushalten und vorausschauend planen zu müssen. Diese Energie wird als Löffel dargestellt. Verschiedene Aktivitäten kosten eine unterschiedliche Anzahl Löffel. An manchen Tagen wacht man vielleicht mit 3 Löffeln auf und muss sparsam mit deren Einsatz sein, damit sie nicht schon vor dem Frühstück aufgebraucht sind. An guten Tagen hat man vielleicht gleich 15 zur Verfügung und kann überlegen, ob genügend Löffel für einen kleinen Ausflug drin wären.
Wenn du mehr darüber lesen möchtest, findest du zum Beispiel beim Sozialverband VdK einen Artikel dazu: Was ist die „Spoon-Theory?“
Wie mir das Hexentum hilft
Ich bin in den 90er Jahren das erste Mal mit dem Hexentum in Berührung gekommen. Erst war ich fasziniert von all den Hexen aus den damaligen TV-Serien, dann las ich schnell meine ersten Bücher über Magie, Wicca, Kräuterkunde und Natur-Spiritualität. Ich war damals 12, autistisch und dadurch psychisch erkrankt. Später kamen noch Endometriose und sehr viel später POTS dazu.
Ich saß auf meinem Kinderzimmer-Teppich, zog einen Schutzkreis, zündete vor mir eine Kerze an, begrüßte die vier Himmelsrichtungen und Elemente, sowie Göttin und Gott – damals waren die meisten deutschsprachigen Ressourcen sehr Wicca-zentriert – und hielt mein allererstes Ritual ab. So praktiziere ich heute gar nicht mehr. Ich bin nicht religiös und würde mich viel mehr als Pantheistin/Atheistin bezeichnen. Aber dieses allererste Ritual hat mir einen ganz neuen Weg aufgezeigt.
Wie mir das Hexentum bei meiner mentalen Gesundheit und mit meinen Behinderungen im Alltag hilft, möchte ich anhand von Beispielen erläutern.
Rituale und Zauber
Das Begehen von Ritualen oder das Wirken von Zaubern hat auf mich einen großen psychologischen Effekt. Ich nutze diese Praktiken um mich selbst zu beeinflussen.
Etwa ein Korken-Fläschchen, welches ich innerhalb eines Rituals mit verschiedenen Dingen, die mich an das erinnern sollen, was ich bewirken möchte, befülle und es mit großem Drumherum verschließe und bespreche. Das Fläschchen ist hinterher eine Art Brücken-Manifestation und erinnert mich im Alltag immer wieder unbewusst an das, was ich erreichen möchte.
Ein weiteres Beispiel aus meiner Praxis ist ein Bad mit verschiedenen Kräuter-Auszügen. Baden, Duschen oder sich mit einem Waschlappen waschen ist erstmal etwas Alltägliches, kann aber zu einer kraftschenkenden Erfahrung werden, wenn wir uns dabei vorstellen, wie alles Negative von uns abgewaschen wird und für immer im Abfluss verschwindet. Ganz verkürzt dargestellt, aber diese Art von Reinigungsritualen, im wahrsten Sinne des Wortes, können unsere Psyche enorm beeinflussen. Sie sind ein Beispiel dafür, wie selbst ohne großen Aufwand etwas Hexerei im Alltag entstehen kann.
Räuchern und Aromatherapie
Das rituelle Räuchern ist etwas, das ich ganz regelmäßig mache. Als Autistin sind Rituale sowieso alltäglich. Und wir Menschen können unser Unterbewusstsein leicht über Gerüche konditionieren. Außerdem trägt ein angenehmer Duft ganz nebenbei zum allgemeinen Wohlbefinden bei.
Entspannungsübungen
Als Jugendliche lernte ich durch das Hexentum das Konzept der Meditation. Ich war damals depressiv und kämpfte immer wieder gegen meine Angsterkrankungen. Dank Meditation, autogenem Training, progressiver Muskelentspannung, Atemübungen, Waldbaden, Fantasiereisen und verschiedener Achtsamkeitsübungen hatte ich jede Menge Werkzeuge an der Hand.
Heute ist besonders die progressive Muskelentspannung meine Begleitung, um meinen chronischen Schmerzen entgegen zu wirken. Und ich habe gelernt, dass Meditation ganz unterschiedlich aussehen kann. Ich erlebe einen meditativen Zustand zum Beispiel beim Puzzlen, wenn ich Wildkräuter in Aquarell male oder mich schminke. Es muss also nicht unbedingt der Lotus-Sitz sein. (Den kann ich durch meine Behinderung sowieso nicht einnehmen, ha!.)
Jahreskreisfeste
Zwar sind die acht Jahreskreisfeste in der heutigen Form durch Wicca entstanden, aber ich habe sie für mich – wie viele moderne Hexen – übernommen. Ich lebe mitten in der Stadt und kann durch meine Behinderung nicht so oft raus in die Natur gehen, wie ich es am Liebsten würde. Durch das Feiern der Jahreskreisfeste, kann ich mir den Wandel der Jahreszeiten zu mir nach Hause holen und sie miterleben. Das erdet mich und schafft Verbindung und Struktur. Ohne dieses Bewusstsein, würde ich mich sehr losgelöst von den Abläufen der Natur fühlen.
Schattenarbeit
Anders als manch andere Formen der Spiritualität gibt es im Hexentum nicht nur eine leuchtende „Alles ist toll, wir haben uns alle lieb, das Leben ist großartig“-Seite. Im Hexentum wird im Dreck gewühlt. Und dieses Auseinandersetzen mit den eigenen Schatten, habe ich immer als sehr essentiell wahrgenommen.
Tarot
Tarot-Karten und andere Orakel können großartige Reflexions-Tools sein. Die vielschichtigen Bilder der Karten können unser Unterbewusstes ansprechen und Gedanken oder Gefühle aus uns rauskitzeln, die uns vorher vielleicht noch nicht so deutlich waren. Schwierige Themen können neu wahrgenommen oder differenzierter betrachtet werden. Bilder sind einfach eine großartige Möglichkeit durch freies Assoziieren die Dinge in unserem Hirn anders zu erleben und zu sortieren.
Phytotherapie
Wenn du nicht das erste Mal auf den Hollenkraut-Seiten liest, ist dir vermutlich schon ganz klar, dass die Pflanzenheilkunde für mich der größte und wichtigste Teil meiner Praktik ist. Die Phytotherapie ist – neben Frau Holle – mein Spezialinteresse und somit für mich als Autistin quasi lebensnotwendig. Als ich meine Ausbildung in evidenzbasierter Phytotherapie machte, hat mich das nachhaltig verändert. Ich spüre einfach eine riesige Erfüllung in mir, wenn ich mich mit der Heilkräuterwelt beschäftige, egal ob in der Theorie oder in der Praxis.
Es ist nicht nur eine autistische Obsession. Die Phytotherapie bedeutet für mich auch Selbstermächtigung. Falls du selbst chronisch krank bist und alles was bleibt die reine Symptombehandlung ist, dann kannst du bestimmt verstehen, was es bedeutet, einen Teil der Symptome selbst managen zu können. Ich darf meinen engen Kreis an Menschen und mich selbst beim Gesunden und beim Verbessern der Lebensqualität helfen. Das macht mich glücklich!
Das sind alles Praktiken, die ich ohne das Hexentum gar nicht oder vielleicht erst sehr viel später kennengelernt hätte. Sie helfen mir meine „Löffelschublade“ aufzufüllen und meine Resilienz zu steigern. Gleichzeitig hat mir das Hexentum aber auch beigebracht sanft mit mir selbst zu sein und zu erkennen, dass das alles nicht mit Druck oder Zwang funktioniert.
Wenn die Löffel nicht mehr für eine Übung oder ein Ritual ausreichen, wenn die Jahreskreisfeste einfach so an einem vorbei ziehen oder wenn innerhalb einer Meditation die Gedanken immer wieder abschweifen, dann ist das nicht schlimm.
Hexenwerk kann zu einem großen Teil Selbstfürsorge sein. Ich glaube, das wurde bis hierhin sehr deutlich. Aber ich muss unbedingt erwähnen, dass das nur ein Teil ist. Das Hexentum ist für viele Hexen eine Philosophie, Naturverehrung, Aktivismus, das Streben danach die Welt besser zu hinterlassen und Erfüllung in der Hilfe für Andere zu finden.
Alles was ich aufgezählt habe, muss nicht für dich passen. Vielleicht hast du eine ganz andere Auffassung vom Hexentum. Und sicher fallen dir noch viel mehr Dinge ein, die du in so einer Liste nennen würdest. Das ist vollkommen in Ordnung so. Wie im Einleitungsteil bereits erwähnt: Wenn du möchtest, teile deine Gedanken zu all dem gerne unter #SpoonieWitchCoven
Darum funktionieren viele Praktiken nicht für behinderte Hexen
Long story short: Weil die allermeisten Ressourcen nicht für behinderte Hexen gedacht sind.
Ich denke die meisten von uns, die sich mit dem Hexenhandwerk beschäftigen, gelangen zuerst über Bücher oder das Internet an Information. Wie überall in unserer Gesellschaft, werden selten die Lebensrealitäten von benachteiligten Gruppen – wie Menschen mit Behinderung – berücksichtigt.
Gepaart mit der Annahme, dass es nur einen richtigen Weg gibt XY zu tun, entsteht schnell der Eindruck, dass das Hexentum für Spoonies und Behinderte gar nicht geeignet sei. (Das Visualisieren wird beispielsweise immer wieder als essentieller Skill beschrieben. Aber wie soll das eine Person mit Aphantasie umsetzen?)
Barrieren sind überall und behindern Hexen auf unterschiedliche Weise. Für die unter uns, die gerne die Gemeinschaft suchen, fehlen meistens geeignete Gruppen und/oder Räumlichkeiten. Der Klassiker sind spirituelle Zusammenkünfte, die sich regelmäßig am Waldrand treffen und dort Jahreskreisfeste feiern, Rituale abhalten, vielleicht zusammen tanzen, essen, was basteln und eben all den tollen witchy stuff machen, den ich mir so vorstellen kann.
Für dich spielen vielleicht andere Barrieren eine Rolle, aber ich möchte kurz meine Gedankenspirale aufschreiben, wenn ich auch nur annähernd darüber nachdenke zu so einem Treffen zu gehen:
„Das ist am Waldrand, das heißt ich brauche Jemanden der mich fährt und abholt. Ich kenne die Leute alle noch nicht, ich würde eigentlich gerne eine vertraute Person mitnehmen. Ach du scheiße, da gibt es bestimmt gar keine Toiletten! Und wo setze ich mich hin? Ich kann mich nicht auf den Boden setzen. Es wäre aber voll seltsam, wenn ich als einzige nicht auf dem Boden sitze. Und die ganze Zeit stehen kann ich auch nicht. Was ist wenn es sehr heiß ist oder es regnet?
Treffe ich auf Ablehnung oder Unverständnis, wenn ich meine Maske trage? Hoffentlich ist der Weg von einer Parkmöglichkeit bis zum Treffpunkt nicht so weit. Wenn ich Glück habe, könnte das Gelände mit meinem Rollator zu bewältigen sein. Was mache ich, wenn ich mich unwohl fühle oder mich Leute nicht mögen… mich vielleicht sogar wegen meiner Schwierigkeiten nicht ernst nehmen?! Ich will aber auch keine Umstände machen.
Uff, hoffentlich habe ich an dem Tag keine großen Schmerzen und hoffentlich falle ich nicht vor Allen in Ohnmacht. Was mache ich, wenn die Musik zu laut ist oder alle durcheinander reden und ich dann nichts mehr verstehen kann. Und ob es die Leute wohl komisch finden, wenn ich die ganze Zeit meine Sonnenbrille trage? Kann ich es mir leisten zwei, drei Tage nach dem Treffen im Bett zu liegen um meine Löffel wieder aufzufüllen? Vielleicht sollte ich einfach absagen, aber was ist, wenn die Leute dann sauer auf mich sind?! Nevermind. Ich gehe besser niemals mehr vor die Tür. Forever Stay Home Club.“
Seit über einem Jahr möchte ich zum Beispiel schon zu einem heidnischen Stammtisch um die Ecke gehen. Ich glaube die Leute dort sind alle sehr nett und aufgeschlossen. Aber dann kommt die Gedankenspirale und die Angst vor der Angst und so bleibe ich doch zuhause. (Meh.)
Anregungen für barrierearmes Hexenwerk und „Low Spoon“-Aktivitäten
Manchmal müssen wir das was uns seit Jahrzehnten als Hexenwerk und magische Praxis präsentiert wird, über Bord werfen.
Ich habe ein paar Ideen gesammelt, die ich gerne teilen möchte. Vielleicht inspirieren sie dich dazu, etwas davon umzusetzen oder für dich so umzugestalten, dass es für dich passt.
Hilfsmittel integrieren
Viele behinderte und chronisch kranke Menschen nutzen unterschiedliche Hilfsmittel, um sich freier bewegen und besser durch den Alltag zu kommen. Etwas was ich selbst erst seit Kurzem für mich entdeckt habe, ist das Einbinden dieser Hilfsmittel in meine Praxis. Kleine alltägliche Rituale, wie das Anziehen meiner Kompressionsstrümpfe, werden plötzlich zu gemütsstärkenden Angelegenheiten. Und das ist echt schön und macht den Anzieh-Prozess gleichzeitig ein bisschen weniger ätzend.
Überleg mal, wie und ob du deine Geh-Hilfe, deine Hör- oder Seh-Hilfen und andere Hilfsmittel in deine Praxis mit einbeziehen könntest. Meinen Rollator möchte ich zum Beispiel noch mit einem der Spoonie Witch Coven Charms schmücken und ihn als kleinen Glücksbringer verwenden.
Gemeinschaft
Wenn es für dich nicht möglich ist, dich mit anderen Hexen zu treffen, du aber den Austausch suchst, dann ist der Blick in Online Communities bestimmt einen Versuch wert. Es ist auch dort nicht leicht eine passende Gruppe zu finden. Ich möchte dir deshalb einen Discord Server empfehlen, der aktiv, gut moderiert und absolut offen für andere Lebensrealitäten ist. Für viele der Mitglieder, ist dieser Ort zu einem Online Safer Space geworden. Schau dich gerne einmal um, wenn du möchtest: Hexentreff Server auf Discord
Buch der Schatten (BoS)
Ein Book of Shadows oder ein Grimoire führen klassischerweise ganz viele Hexen. Die Gestaltung kann vielfältig sein. Über aufwändig gestaltete und mit gezeichneten Bildern verzierte Seiten, bis hin zu hingekritzelten Stichpunkten ist alles möglich und alles richtig. Auch was du rein schreibst, ist ganz dir überlassen. Manche füllen ihre Bücher wie Lexika. Andere schreiben eher ihre Gedanken auf oder dokumentieren ihre Rituale und Rezepte.
Falls du ein BoS mit deinen Erfahrungen und Entdeckungen füllen möchtest, aber das Schreiben auf Papier eine zu große Hürde darstellt, ist eine Möglichkeit dein BoS in einem Text-Dokument am Smartphone oder am PC zu führen. Das ist sogar sehr praktisch, weil du es jederzeit editieren und die Suchfunktion nutzen kannst.
Jahreskreisfeste feiern
So gerne ich genügend Löffel hätte um jedes Jahreskreisfest groß zu feiern, zu backen, zu kochen und am Besten noch in der Natur zu sein, so wenig entspricht das meiner Realität. Meine Symptome richten sich schließlich nicht nach dem Kalender. Das kennst du bestimmt auch.
Während der Pandemie verbrachte ich viel Zeit im Spiel Animal Crossing auf der Nintendo Switch. Die Insel die man dort als Spieler*in dekoriert und bewohnt war ein richtiger Wohlfühl-Ort für mich. Ich richtete mir einen kleinen Hexenladen ein, gestaltete ein paar Grusel-Schauplätze, ein Haus in dem Frau Holle spinnt und Betten ausschüttelt und niedliche Cafès für die ebenso niedlichen tierischen Nachbarn.
Dann kam ein Jahreskreisfest. Und alles was ich konnte, war auf dem Sofa liegen. Also begann ich mir einen Ritual-Platz in Animal Crossing zu gestalten und feierte dort bei Mondschein ein schönes, gemütliches Fest. Mit Musik und Tanz und allem was dazu gehört. Nur eben digital.
Und wenn die Feste halt mal komplett ausfallen, was soll’s.
Kleine Gesten, Alltags-Magie
Social Media überschüttet uns alle mit super schönen, ästhetischen Fotos und Videos von stilvoll abgestimmten Altar-Plätzen, Ritualen und Zaubern. Ich schaue mir die auch mal gerne an und mag diese „witchy aesthetic“ oft sehr.
Ich denke, dass das gerade für Menschen, die das Hexentum erst neu für sich entdecken, ordentlich Druck auslösen kann. Die Erwartungen an einen selbst sind vielleicht viel zu hoch. Und das bremst aus. Wir machen das für uns. Wir sind nicht an irgendwelche Regeln gebunden, außer an die, die wir uns selbst auferlegen. Wir müssen nichts davon mit Anderen teilen.
Und Hexerei darf klein und alltäglich sein. Für uns Spoonie Witches kosten Aktivitäten unterschiedlich viele Spoons. Nur weil eine Aktivität für eine Person als nicht anstrengend empfunden wird, kann es für eine andere ein viel zu großer Kraftaufwand sein. Deshalb gilt auch hier: Picke dir gerne einfach das raus, was dich anspricht. Es sind viele Alltäglichkeiten, aber du kannst jede einzelne davon mit ein bisschen Hexerei füllen, wenn du möchtest.
„Low Spoon“-Aktivitäten:
Vielen Dank für’s Lesen und bis ganz bald,
Erbse <3
Willkommen im Spoonie Witch Coven
Ich möchte mit der Initiation des Spoonie Witch Coven mehr Sichtbarkeit für behinderte und chronisch kranke Hexen schaffen. Der Spoonie Witch Coven soll unsere Gemeinschaft stärken und Online wie Offline eine Umgebung kreieren, in denen sich Spoonies sicherer fühlen können. Um diese Verbundenheit nach außen zu tragen, habe ich für den Hollenkraut Shop eine Kollektion mit vielen verschiedenen Charms und Stickern veröffentlicht.
Ich lade dich herzlich dazu ein in der Kollektion zu stöbern und dich unter dem Hashtag #SpoonieWitchCoven mit Anderen zu vernetzen, wenn du das möchtest.
Zur Spoonie Witch Coven Kollektion
Weiterführende Links und Lese-Tipps
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